Fatigue im Herbst - vom Loslassen und Seinlassen

10/24/2021

Wir düsen also durch die schöne Herbstlandschaft, draußen alles kunterbunt und farbenprächtig.
Die Bäume leuchten in den schönsten Herbstfarben.. und bald, ja ja ich weiß, das weiß ja jede/r wirst du jetzt sagen - aber warte kurz - bald lässt er sie los, seine wunderschönen Blätter. Und warum macht er das?

Ja genau, hier geht es nämlich ums Energie einsparen. Und beim Thema Energiesparen werde ich generell immer hellhöhrig - immer (unfreiwillig) auf der Suche nach einem neuen Pacing - Hack sozusagen 😃

Zurück zu den bunten Herbstbäumen:
Sie lassen also ihre Blätter los, weil diese viel Wasser brauchen, den Baum also immens viel Energie kosten.
Und im Winter ist Wasser im gefrorenen Boden bekanntlich besonders heiße Mangelware. Um den Winter zu übertauchen, hat sich die Natur daher etwas sehr Raffiniertes einfallen lassen - er lässt einen großen Teil von sich, seine Blätter, einfach los. So als wäre es kein großes Ding, einfach Finger, Haare usw abfallen zu lassen. Um Energie zu sparen, um den Winter zu überstehen.

Wenn es bei uns Menschen nur auch so einfach wäre mit dem Loslassen.

Ich finde, chronische Krankheiten zwingen einen so oft zum Loslassen, oder nicht?
Angefangen, von den abgesagten Treffen mit den Freundinnen, oder dem hart erarbeiteten Karriereplan oder Studium, der sportlichen Figur, der strahlend gesunden Haut, den Träumen und Zielen, bis hin zu Freundschaften oder Beziehungen. Tschüss, adieu - auf nimmer wiedersehen? Manches muss man zumindest für den Moment verschieben, anderes vielleicht sogar komplett gehen lassen.

Mein Vor-Krankheits-Ziel (aus der uralten Zeit), einen Halbmarathon zu laufen, fühlte sich während der Fatigue nur noch wie ein schlechter Scherz an - weit entfernt in einem anderen Leben - in einer anderen Galaxie. Wie sollte ich je wieder zum Laufen kommen, wenn ich nach dem Haare-waschen erschöpfter bin, als wäre ich einen Marathon gelaufen? Oder Freundschaften / Beziehungen, die die Krankheit nicht mittragen oder nicht damit umgehen können. Diese loszulassen tat verdammt weh.

Das Leben fordert von erschöpften HeldInnen eine sehr große Loslass-Kompetenz ein, wie ich finde.
Und das ist weder fair noch einfach.

Doch was im Außen ist, ist auch im Innen. Ansprüche an sich selbst loszulassen - das geht ganz tief.

Zum Beispiel den Anspruch, immer fleißig oder perfekt sein zu müssen, um etwas Wert zu sein. Oder dass nur ein traininerter Körper ein guter Körper ist. Oder es immer allen Recht machen zu müssen und keine Grenzen haben zu dürfen. Und so weiter, und so fort.

Dies führt uns unweigerlich zu unserem Selbstwert und unsere Identität - und die Frage, worauf unser Selbstwert denn überhaupt aufbaut. Wann bin ich etwas wert und wann nicht? Bin ich wertlos, wenn ich weniger oder garnichts leiste oder sich andere um mich kümmern müssen? Was definiert meinen Selbstwert? Chronische Krankheit ist dabei wohl ein überdimensionaler Brandbeschleuniger, ein Entwicklungsbooster (um den keiner gebeten hat), um herauszufinden, was unseren Selbstwert wirklich definiert und alles "überflüssige" wegzubrennen.

Genervt hat mich die ganze be*** Loslasserei - ich habe nicht danach gefragt, liebes Leben. Aber here we are.

Was kann uns also dabei helfen?

Lasst uns mal in das Bild des Herbstbaumes tiefer eintauchen. Ich bin davon überzeugt, dass die Natur einer der größten Lehrmeister für uns ist. Wir Menschen sind ja eigentlich auch Natur - auch wenn wir es meistens vergessen haben. Der Herbstbaum lässt los, was (im Moment) nicht mehr wirklich zu ihm gehört, was im Moment Energie und Kraft raubt, statt Kraft zu geben. Vielleicht symbolisieren die Blätter deine Karriere, die neben dem hohen Ansehen bei genauerem Blick doch auch viele Überstunden mit sich bringt. Oder die Freundschaft, die dich aussaugt. Oder die Überzeugung, weniger Wert zu sein, wenn du nicht arbeiten kannst. Doch der Herbst - und dann der Winter legt auch den Baum frei. Und wahrscheinlich tut das anfangs weh, vielleicht vermissen wir den anderen Menschen oder trauern den nicht gelebten Träumen nach. Wir sind keine Bäume, wir sind Menschen mit Gefühlen. Doch genau diese Gefühle können uns helfen.

Zum Beispiel hilft die Trauer als Beziehungsgefühl, etwas oder jemanden loszulassen. Sie ist sozusagen der Schlüssel und das Werkzeug dazu, um gesund loszulassen. Sie will gespürt werden, vielleicht auch ausgedrückt werden (z.B. niederschreiben, oder anders ausdrücken). Und wenn wir getrauert haben, die Trauer gewürdigt haben, können wir die Dinge, Menschen, Träume, .. auch wirklich frei lassen oder besser noch - Sein-lassen. Und wir haben wieder mehr Kraft, Energie und Fokus für unseren Heilungsweg und vielleicht für neue Träume und neue Menschen. Denn wer loslösst, hat beide Hände frei (Zitat: Master Han Shan). Und neue Menschen kommen wieder in unser Leben, die Kraft geben. Oder neue Hobbys, neue Pläne, Träume und Wünsche. Fallengelassene Blätter geben dem Baum - also dir ;) - die Sicht frei auf Neues, auf Anderes. Die Aussicht verändert sich.

"Loslassen kostet weniger Kraft als Festhalten, und dennoch ist es schwerer."
(Detlev Fleischhammel)

Wieviel Kraft kostet es, etwas bei sich zu halten, das nicht bei uns sein will / soll / kann?
Etwas - zumindest für den Moment - "sein-zulassen" kann euch Kraft geben, Energie sparen und Fokus schenken - für die Dinge, die im Moment wichtig und heilsam für euch sind. Mir gefällt generell das Wort "sein-lassen" (Quelle unbekannt) viel besser. Ich muss ja nichts von mir losreißen, sondern kann es einfach sein-lassen.

Vielleicht gibt dir nichts von diesen Worten Trost, vielleicht machen sie dich auch wütend oder traurig. Du hast schließlich nicht darum gebeten, eine Extra-Lektion in Sachen Loslassen durch eine be****** Krankheit wie CFS, postvirale Fatigue, oder Long Covid zu erlangen. Du willst auch kein Baum sein und deine liebgewonnenen Blätter schon garnicht fallen lassen. Ich verstehe das. Fatigue-Erkrankungen haben nichts mit Fairness zu tun, wir haben nicht danach gefragt, wir wollen einfach wieder gesund sein. Auch das verstehe ich. Doch der Akt des Loslassens gibt uns auch Kontrolle zurück. Das ist das, was wir tun können, um "Ballast" abzuwerfen, um weniger Energie zu verbrauchen. In der Hoffnung, dass Neues dadurch entstehen kann.

Vergiss nie: Du bist so viel mehr als deine Krankheit.
Und du bist noch so viel mehr als deine Leistung oder deine Ansprüche an dich selbst.
"Der Wert eines Menschen ist unverhandelbar."
(Alexandra Graßler).

Was musstet ihr loslassen?
Was hilft euch beim Los- oder Seinlassen?

Von Herzen alles Gute auf eurem Weg.
Kathi